Syrien - von der Revolution zum Stellvertreterkrieg - Dezember 2016

Veröffentlicht: Donnerstag, 06. April 2017 09:02


Frage 1: Seit gut fünf Jahren…

Udo Steinbach: Der Ausbruch des Konflikts in Syrien im März 2011 war Teil der „arabischen Revolte“, die im Dezember 2010 in Tunesien begonnen und die den ganzen arabischen Raum von Marokko bis zum Indischen Ozean – allerdings in sehr unterschiedlichen Formen und Ergebnissen – erfasst hatte. Es handelt sich also wie in Tunesien, Ägypten, Jemen und anderswo um einen Aufstand eines Teils des Volkes gegen den Despoten. Als dieser nicht gehen wollte, entwickelte sich der Protest zu einem bewaffneten Konflikt. Dieser nahm eine besondere Härte an, da eine religiöse Minderheit, die Alawiten, den Kern des politischen Regimes und der Armee bilden. Nach Jahrzehnten des Aufstiegs müssen sie bei dem Verlust der Macht um einen Rückfall in jene Marginalisierung, ja Unterdrückung fürchten, die ihre Stellung in der Gesellschaft Syriens über Jahrhunderte gekennzeichnet haben. Hinzu kommt, dass in Syrien nicht jene Massenmobilisierung stattgefunden hat, wie wir sie in anderen arabischen Ländern erlebt haben. Die christliche Minderheit etwa, immerhin mehr als 10% der Bevölkerung, konnte in einem säkularen System relativ unbehelligt leben. Ab 2012 griffen von außen kommende Gruppen islamistischer Extremisten und Dschihadisten ein. Das wachsende Chaos ließ schließlich ein Vakuum entstehen, in dem sie im Sommer 2014 ein „Islamisches Kalifat“ ausrufen konnten.


Frage 2: Russland und die Vereinigten Staaten…

Udo Steinbach: Die drei genannten Staaten haben sehr unterschiedliche Interessen, die sie auf syrischem Boden austragen. Die USA sind nur noch halbherzig bei der Sache, seit Obama seine Entschlossenheit bekundet hat, die USA nicht mehr im Nahen Osten militärisch zu engagieren. Für das Russland Putins ist der Konflikt in Syrien eine goldene Gelegenheit, Russland als Nahostmacht – die es seit dem 18. Jahrhundert gewesen ist – wieder in die Region zurückzubringen. Auch in Ankara träumt man alte post-osmanische Träume. Nachdem die internationale Gemeinschaft Erdoğan die Unterstützung verweigerte, militärisch zu intervenieren, hat er sich in einem Dschungel obskurer politischer und militärischer Allianzen verwickelt. Gegenwärtig geht es ihm zuvorderst darum zu verhindern, dass aus einem Staatszerfall Syriens die Kurden als Gewinner hervorgehen.

Das Problem freilich geht über die genannten drei Staaten hinaus. Denn Syrien ist längst zu einer Bühne von Stellvertreterauseinandersetzungen geworden. Die Tatsache, dass der schiitische Iran das Regime in Damaskus intensiv und wirkungsvoll unterstützt, hat das sunnitische Saudi-Arabien auf den Plan gerufen, das sich auf die Seite islamistischer Organisationen geschlagen hat. Andere arabische Länder – unter ihnen das winzige, aber reiche Katar - haben sich eingemischt. In diesem Chaos gibt sich Israel zwar als unparteiisch aus; aber wir dürfen sehr wohl davon ausgehen, dass man in Jerusalem die Entwicklungen sehr genau verfolgt. Eine Situation, in der Israel feindliche Kräfte die Oberhand gewinnen würden, wird man dort schwerlich tatenlos hinnehmen. Angesichts der Difusität der oppositionellen Kräfte auf der einen und der Entschlossenheit der Pro-Asad Kräfte auf der anderen Seite konnte Asad – z. B. im Falle Aleppos – seine militärische Position festigen.

Mit der Gründung des Islamischen Kalifats ist zudem eine weitere Herausforderung aufgetreten. Die von ihm ausgehende terroristische Bedrohung – insbesondere auch in westlichen, namentlich europäischen Gesellschaften – hat dem Kampf gegen diesen Priorität erwachsen lassen. Das aber bedeutet ipso facto, dass der Sturz Asads auf der politischen Agenda der internationalen Gemeinschaft in den Hintergrund getreten ist.


Frage 3: Unter welchen Bedingungen…

Udo Steinbach: Genauer gesagt handelt es sich um zwei Kriege: einen Krieg gegen den Islamischen Staat (IS; oder das Islamische Kalifat) und einen Krieg um die Zukunft des Regimes in Syrien. Beide hängen mit einander zusammen. Für den Krieg gegen den IS gibt es nur eine militärische Lösung. Dabei konnte nie zweifelhaft sein, dass dieser auch besiegt und aufgelöst würde. Die Frage war nur, wer die Streitmacht stellen würde, sie zu verwirklichen. Im Irak folgte seit etwa einem Jahr eine Offensive der nächsten. Die gegenwärtige in Mosul dürfte das Schicksal des IS auf irakischem Boden besiegeln. In Syrien liegen die Dinge schwieriger, da nur eine Koalition lokaler Milizen in der Lage sein wird, den IS zu besiegen. Da spielen die syrischen Kurden eine besondere Rolle. Gegen diese freilich wendet sich jetzt die Türkei in der Befürchtung, die Kurden könnten in Syrien einen eigenen Staat anstreben (und damit die Kurden in der Türkei ermutigen, Ähnliches zu tun). Deshalb scheint die türkische Staatsführung nunmehr entschlossen, den Kampf gegen den IS selbst zu führen.

Ein Sieg über den IS freilich bedeutete noch nicht, dass damit das Phänomen des extremistischen Islams auf syrischem Boden, also auch die Bedrohung Europas durch diesen erlegt wären. Die Zukunft dieses Phänomens wird am Ende mit der Frage verknüpft sein, ob es gelingt, in Damaskus ein Regime zu etablieren, das in den Augen einer Mehrheit der Bevölkerung als legitim wahrgenommen würde. Genau hier scheiden sich die Geister. Soll Asad weiterhin an der Macht bleiben? Soll er nur übergangsweise an der Macht bleiben? Oder ist künftig nur ein Syrien ohne Asad denkbar? Bei dem kriegerischen Geschehen geht es also wesentlich um die künftige Stärke am Verhandlungstisch. Zwischen den Protagonisten der unterschiedlichen Antworten auf diese Fragen wird Aleppo zerrieben. Sollte es dem Asad-Regime gelingen, Aleppo in seine Hand zu bekommen, bedeutete dies eine deutliche Stärkung auch seiner Position bei künftigen Verhandlungen und ein Weichenstellung für sein politisches Überleben. Warum sollten er sich – und seine russischen Verbündeten – auf einen Waffenstillstand einlassen, der seine militärischen Gegner möglicherweise wieder stärken könnte?


Frage 4: Abschließende Frage…

Udo Steinbach: Eine kluge militärische Intervention der internationalen Gemeinschaft in 2012/2013 wäre möglich gewesen. Eine Flugverbotszone für syrische Kampfflugzeuge und eine Schutzzone an der türkisch-syrischen Grenze hätten seinerzeit eine mobilisierende Wirkung auf jene Teile der syrischen Bevölkerung ausgeübt, die noch zögerten, dem Asad-Regime den Rücken zu kehren. Dass sich dafür angesichts des russischen Vetos im UN-Sicherheitsrat kein Mandat erhalten ließ, war eine bequeme Ausrede für jede Form einer militärischen Hilfestellung für die Opposition. Dann begann die militärische Unterstützung der Russen für Asad. Jetzt hieß es in westlichen Hauptstädten, ein militärisches Engagement könnte eine größere internationale Konfrontation provozieren.

Ohne eine starke Entscheidung in Washington blieb die internationale Gemeinschaft führungslos. Sie wurde zum Zuschauer und begnügte sich mit hilflosen Appellen für humanitäres Engagement. Dies auch noch, als die Flüchtlinge nach Europa kamen. Russland konnte zum Nulltarif seine Muskeln in Syrien spielen lassen.

Die letzte Antwort auf die gestellte Frage aber liegt im desolaten politischen und moralischen Zustand der Europäischen Union und in seiner Handlungsunfähigkeit nach innen wie nach außen. Europa hat keine Führungspersönlichkeit, die Charisma und Stärke hätte, die Prinzipien der Humanität und der Menschenrechte, die man als Lippenbekenntnisse ständig vor sich her trägt, in der Politik auch zu bewähren. Und was die Flüchtlinge betrifft – ein Folge der Tatenlosigkeit -, so kann keine „Lösung“ billig genug sein – auch nicht ein „deal“ mit der Türkei, einem Land das in hohem Maße Teil des Problems geworden ist.


Udo Steinbach