Konfession und Machtpolitik – auch eine Facette des Kriegs in Syrien - März 2018

Veröffentlicht: Freitag, 23. März 2018 10:00


Der Konflikt um die politische Zukunft Syriens, der im März 2011 ausbrach und bis in die Gegenwart (April 2018) nicht gelöst ist, ist keine singuläre Erscheinung. Er ist Teil der „dritten arabischen Revolte“ (nach den Aufbrüchen der zwanziger sowie der fünfziger und sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts), die mit der Erhebung in Tunis im Dezember 2010 begann und sich dann in Windeseile bis in die letzten Winkel der arabischen Welt ausbreitete. Wenn die „arabische“ Revolte der Kontext ist, so hat dieser zahlreiche Subtexte – je nach den historischen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Traditionen der arabischen Völker zwischen dem Atlantik und dem Indischen Ozean.

So entfaltete sich auch die syrische Revolte von Anfang an in einem „syrischen“ Subtext; und es war klar, dass sich die Ereignisse, wie sie sich in Tunis, Kairo, San’a, Amman und anderswo dargestellt hatten, in Damaskus nicht wiederholen würden. Wohl würde das Regime unter Druck geraten; aber nach Maßgabe der gesellschaftlichen und politischen Ausgangslage sowie der spezifischen nicht zuletzt religiösen und kulturellen Traditionen würden sie anders als an den genannten Plätzen verlaufen. Insbesondere würde die von der alewitischen Sekte dominierte Armee eine entscheidende Rolle mit Blick auf die Zukunft des Regimes in Damaskus zu spielen haben. Dass die Auseinandersetzungen so hartnäckig werden würden, war freilich seinerzeit nicht vorauszusehen, lässt sich aber im Nachhinein erklären. Vor dem Hintergrund des tiefen Umbruchs des gesamten Nahen und Mittleren Ostens und der damit verbundenen Macht- und Überlebenskämpfe zahlreicher Regimes in der Region ist Syrien zu einer Bühne von Einmischungen zahlreicher proxies geworden. Alle Regimes in der Region sehen den Ausgang des Ringens um Damaskus als wichtigen Bestandteil ihres Kampfes um Vorherrschaft bzw. Überleben. Prozesse des Staatszerfalls haben darüber hinaus politische und territoriale Vakuen entstehen lassen, die in vielfältiger Weise Anhängern einer dschihadistischen Ideologie Handlungsspielräume eröffnen. In dieser chaotischen Ausgangslage spielen religiöse Elemente und Traditionen eine Rolle; d.h. werden alte religiöse Differenzen wieder Elemente politischer und militärischer Strategien.

Von ihrem Beginn an (1963) beruhte die Herrschaft der Ba’th-Partei auf konfessionalistischen Strukturen. Diese hatten in der französischen Mandatszeit ihre Wurzeln. Angehörige der alewitischen Minderheit (von sunnitischen Theologen als häretisch angesehen) und anderer gesellschaftlicher Randgruppen hatten das Rückgrat der von den Franzosen aufgestellten troupes spéciales gebildet; in ihnen sahen sie eine Chance des sozialen Aufstiegs. In dem Maße, in dem nach dem Krieg die Ba’th-Partei die nunmehr nationale Armee zu infiltrieren begann, nahmen Alewiten auch in dieser Partei, deren Grundlage eine säkulare nationalistische Ideologie ist, führende Positionen ein. Spätestens mit der Machtübernahme des Luftwaffengenerals Hafiz al-Asad (1970) war dieser Prozess abgeschlossen. Die Alewiten halten alle wichtigen Positionen in Politik und Wirtschaft besetzt, auch wenn sie Persönlichkeiten unter der sunnitischen Mehrheit und unter anderen Minderheiten (u. a. Christen) in die herrschenden Kreise kooptiert haben. Als die Revolte im März 2011 begann, war davon auszugehen, dass die Alewiten über die Armee ihre Führungspositionen mit Klauen und Zähnen verteidigen würden.

Eine zweite grundlegende konfessionalistische Gegebenheit war und ist die politische und sicherheitspolitische Achse Damaskus – Teheran. Sie entstand im Laufe des iranisch-irakischen Krieges in den achtziger Jahren und ist über die Jahrzehnte ausgebaut worden. Beide Regimes, das alevitische in Damaskus und das schiitische in Teheran sahen in einer engen sicherheitspolitischen Verbindung eine Chance, ihre Isolierung zu überwinden und zugleich ein sicherheitspolitisches Glacis zwischen dem Persischen Golf und dem Mittelmeer gegen alle Versuche von äußeren Einmischungen, insbesondere seitens der USA zu schaffen. Mit den Jahrzehnten ist die religiöse Komponente zunehmend stärker hervorgetreten. Symbolisch ist das an der Bedeutung festzumachen, die das schiitische Heiligtum der Sayyida Zainab nahe Damaskus erlangt hat. In der Vergangenheit eher ein unbedeutender Platz, hat sich hier über die Jahre ein schiitischer Märtyrerkult entwickelt, der zahlreiche Gläubige aus Iran anzieht.

Eine dritte Koordinate ist mit der Entwicklung der iranisch-saudischen Beziehungen gegeben. Vor dem Hintergrund der aggressiven Feindseligkeit der saudischen Wahhabiten gegenüber der Schia haben die saudisch-iranischen Beziehungen zahlreiche Umschwünge erlebt. Nach der Eliminierung des sunnitisch-arabisch-sozialistischen Protagonisten Saddam Husain durch die USA (2003), der gleichsam zwischen den beiden Mächten gestanden hatte, hat sich ein direkter Machtkampf entwickelt, der sich in dem Maß verschärft hat, in dem sich die USA unter Präsident Barak Obama aus dem Nahen zurückzuziehen begonnen haben. So wurde Syrien zu einem Schauplatz des Kampfes von Stellvertretern, die von Saudi-Arabien (und anderen sunnitischen Regimes) unterstützt, einen Machtwechsel in Damaskus und damit zugleich eine Schwächung Irans herbeiführen wollten. Seither hat sich diese Auseinandersetzung auch auf Bahrain, Qatar, den Jemen und den Libanon ausgeweitet. Seit 2017 sind auch die Theologen beider Seiten dabei, einander zu delegitimieren und des Unglaubens zu bezichtigen.

Die auch religiös begründete Einmischung hat gleichsam Baschar al-Asads Argument, nach dem der Konflikt in Syrien wesentlich von außen in Form von Extremisten und Dschihadisten angezettelt worden sei, zu einer self fulfilling prophecy gemacht. Nachdem es die internationale Gemeinschaft abgelehnt hatte, einen Machtwechsel in Damaskus herbeizuführen, und sich die Freie Syrische Armee dazu nicht in der Lage zeigte, stehen sich das von Iran unterstützte Regime (plus schiitische Milizen) und die zahlreichen von sunnitischen Regimes unterstützten radikalen sunnitischen Gruppierungen gegenüber.

Mit der Einmischung der Türkei erhält unsere Thematik eine vierte Koordinate. Vom Beginn der syrischen Krise an war Recep Tayyip Erdoğan als der maßgebliche türkische Politiker auf den Sturz des Regimes von Baschar al-Asad aus. Als ihn die internationale Gemeinschaft darin nicht unterstützte, begann er seinerseits mit radikalen Organisationen zusammenzuarbeiten, die in der Lage schienen, für seine Ziele zu kämpfen. Dabei geriet er naturgemäß in Konkurrenz mit anderen – arabischen – Mächten, da er wesentlich auf die Muslimbruderschaft setzte, der zahlreiche arabische Regimes in Feindschaft gegenüberstehen. Seine Politik wurde durch den Konflikt mit den syrischen Kurden kompliziert, denen er aus innenpolitischen Gründen den Kampf angesagt hat. Dass er auch mit Iran in Konflikt geriet, versteht sich nach Lage der Dinge von selbst. Wer die religiöse Dimension der türkisch-iranischen Beziehungen ausloten wollte, müsste freilich bis ins 16. Jahrhundert, der Rivalität zwischen den sunnitischen Osmanen und den schiitischen Safawiden, zurückblicken. So sitzt die Türkei gegenwärtig zwischen mehreren Stühlen: denen Irans, Saudi- Arabiens (plus Ägyptens) und Qatars (das es mit den Muslimbrüdern und Iran hält und deswegen mit Saudi-Arabien im Konflikt liegt).

Eine fünfte religiös-politische Koordinate des Konfliktgeschehens im Nahen Osten ist mit der Entstehung eines dschihadistischen Staates, des Islamischen Staates im Irak und in Syrien (ISIS), gegeben. Grundlage dieser islamistischen Variante eines tausendjährigen Reiches ist eine quasi leninistische Wendung der islamischen Religion. Vor dem Hintergrund der konflikthaften Gemengelage und dem Zerbrechen überkommener staatlicher Strukturen im Nahen Osten, das zeitweilig ein staatliches Vakuum hat entstehen lassen, konnte ein Staat ausgerufen werden, der seine Legitimation aus einer radikalen Kampfansage an den überkommenen Islam, den auf ihm beruhenden Status quo in der islamischen Welt sowie den Westen erhalten hat. Seine Bekämpfung seit 2014 hat erhebliche militärische Potentiale im Ringen um die Zukunft Syriens und des Irak gebunden.

Wie immer die alte Frage beantwortet wird: ob es sich um religiöse Verwerfungen handelt oder ob die Religion zu politischen Zwecken instrumentalisiert wird - unübersehbar ist, dass das Eindringen religiöser Elemente in die arabischen Umbrüche die Lage auch in Syrien sehr kompliziert hat. Mit Blick auf die Vergangenheit mag man durchaus Parallelen zu den Verwerfungen zwischen den christlichen Konfessionen erkennen. Mit Blick auf die Gegenwart tut sich der Unterschied auf: Während die Beziehungen zwischen den christlichen Konfessionen heute durch Dialog und ökumenische Bestrebungen charakterisiert sind, ist die konfessionalistische Dimension im Nahen Osten sehr lebendig. Im 20.Jahrhundert haben die europäischen Kolonialmächte auf dieser Tastatur gespielt. So unter anderen die Franzosen, als sie in Syrien den religiösen Minderheiten einen besonderen Status eingeräumt haben. Deswegen hat der syrische Konflikt eine seiner Wurzeln eben in der französischen Mandatszeit.

Mit der Beschwörung der auswärtigen Einmischung und der Instrumentalisierung radikal religiöser Kreise durch eben diese hat der syrische Präsident Baschar al-Asad alte Traumata in Syrien wachgerufen und eine Entschlossenheit des Widerstands zugunsten seines Regimes mobilisieren können wie das anderswo unmöglich war. Für die Aleviten und andere religiöse Minderheiten in Syrien kann es keine Alternative zum säkularen Staat geben. Daraus erklärt sich nicht nur die Hartnäckigkeit des Widerstands (und der Brutalitäten in diesem Zusammenhang), sondern auch der Pakt mit dem Teufel: der Islamischen Republik Iran, einem religiösen Staat.

Es gehört zu der Hintergründigkeit der gegenwärtigen Situation im Nahen Osten, dass, während die Religion einmal mehr instrumentalisiert wird, eine starke Tendenz erkennbar ist, sie aus dem politischen Raum zu verbannen. Darauf kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. In Tunesien ist das - buchstäblich in letzter Minute – gelungen. Andere Gesellschaften suchen – jede auf ihre Weise – den Weg dahin. Dazu gehören die Türkei, Iran, Saudi-Arabien, der Irak – um nur einige zu nennen. Das Desaster des gegenwärtigen Nahen Ostens, das wohl in Syrien kulminiert, lässt auch im Nahen Osten die Einsicht reifen, dass mit der Religion kein Staat zu machen ist.

Einer Vermittlung Europas, das diese Einsicht ebenfalls schmerzvoll lernen musste, könnte damit ein Weg geebnet sein. Dem wüsten Ringen in der Gegenwart könnte somit noch eine Art von Sinnhaftigkeit beigemessen werden.


Udo Steinbach